Tanzen und die Heilung des Nervensystems

August 2, 2022

von:

Rachel Havekost

Ich bin berüchtigt dafür, dass ich auf Hochzeiten die Tanzfläche richitg zu rocken und eine niedrige Hemmschwelle für unkonventionelle, peinliche Tanzbewegungen habe und ich bin meist die erste, die euphorisch auf der Tanzfläche steht.

Als ich mich auf dem Höhepunkt der Pandemie im Jahr 2020 scheiden ließ, tanzte ich oft allein in meiner Wohnung in Los Angeles. 

"Wissen Sie", sagte mir meine Therapeutin, als ich ihr davon erzählte, "Das, was Sie tun, tanzen und bewegen, ist eigentlich eine Form der somatischen Therapie. Sie bauen intuitiv Stress ab, steigern die Glückshormone und stärken Ihr Nervensystem."

Das hat mich überrascht. Meiner Stimmung hat es auf jeden Fall geholfen, täglich zu tanzen, und ich merkte, wie sich in meine Verdauung, meine geistige Klarheit und allgemeine Lebensfreude  während dieser Monate in Los Angeles verbesserten. Sicherlich kann Tanzen kein Rezept für meinen aktuellen Kummer oder mein früheres Trauma, oder etwa doch?

Ich tat also das, was ich normalerweise tue, wenn ich einem neuen Konzept nicht sofort Glauben schenke: Ich wandte mich an die Wissenschaft.

Die Wissenschaft des Tanzes, des sich Schüttelns und der mentalen Gesundheit

Ist dir schonmal aufgefallen, wie sich ein Hund oder ein Pferd schüttelt, wenn es sich erschreckt? Das liegt daran, dass Tiere intuitiv ihre Gliedmaßen schütteln, um das überschüssige Adrenalin und Cortisol aus dem Körper zu pumpen und die Körperfunktionen wieder in Gang zu bringen. 

 

Tanzen und Schütteln sind zwei Bereiche des sogenannten “Somatic Experiencing”, einem von Dr. Peter Levine entwickelter, körper-basierter Ansatz zur Heilung. Beim Somatic Experiencing liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Denken, Reden oder der mentalen Verarbeitung von Trauma oder Stress, sondern auf der Bewegung, der Atmung und dem Einsatz der Sinne. 

Stress löst eine natürliche Reaktion in unserem Nervensystem aus: Wir schütten Adrenalin und Cortisol aus, die Herzfrequenz wird erhöht, die Verdauung wird gestört, wir umgehen die  Gedächtnisspeicherung und bereiten uns auf das Überleben vor. Dies ist die Kampf- und Fluchtreaktion. Leider erleben viele von uns diese Reaktion auch, wenn sie mit Stress konfrontiert sind, selbst wenn es dabei nicht um Leben oder Tod geht. Unser Nervensystem befindet sich dadurch in einem ständigen Zustand der Überreizung.

Wir können den ganzen Tag mit einem Therapeuten über unseren Arbeitsstress reden, solange wir aber nicht wissen, wie wir unserem Körper regulieren, wird unser Nervensystem weiterhin in den Panikmodus geraten. Dies kann zu Gedächtnisstörungen, Verdauungsstörungen, Angstzuständen, emotionaler Unsicherheit, hormonellem Ungleichgewicht, Denkstörungen, Konzentrationsschwäche und vielen anderen Problemen führen, von denen wir gar nicht wissen, dass sie mit einem gut funktionierenden Nervensystem zusammenhängen.

Im Grunde geht es also darum, das Nervensystem zu regulieren, um unseren Körper bei Stress wieder ins Gleichgewicht zu bringen sowie zukünftige geistige und körperliche Probleme zu vermeiden.

Aber was ist mit alten Traumata?

Hier kommt das Tanzen ins Spiel. 

"Wenn ein Trauma zuschlägt, verliert das Nervensystem seine Fähigkeit, einen Zustand des Gleichgewichts aufrechtzuerhalten. Die eingeschlossene Energie aus dem traumatischen Erlebnis führt dazu, dass das Nervensystem in einen Zustand des Kampfes oder der Flucht gerät - die "Über-" oder "Unterreaktion" [Somatic Experiencing] hilft dabei, das Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem sie dem Einzelnen hilft, sein Sicherheitsgefühl wiederherzustellen. Dies kann nur geschehen, wenn der Körper eine "biologische Vollendung" hat und die Trauma-Energie die Möglichkeit hat, sich wieder in den Körper zu integrieren." 

Die dauerhaften Auswirkungen der biologischen Unvollständigkeit führen dazu, dass wir Symptome erleben, die über den grundlegenden Stress hinausgehen:

"Stress ist ein Ausgangspunkt für viele mentale und emotionale Dysregulationen", schreibt Adair Finucane, LMSW

Wenn unser Körper in den Kampf- und Fluchtzustand gerät und keine Gelegenheit hat, sich zu erholen, verlieren wir die optimale Funktion unserer Motorik, Kognition, unseres Gedächtnisses und unserer sensorischen Funktionen.

Während das Schütteln diese Trauma-Energie freisetzt und eine "biologische Vollendung" unterstützen kann, ist es das Tanzen, das es uns ermöglicht, kognitive und körperliche Funktionen zu rehabilitieren, die durch ein unausgeglichenes Nervensystem geschädigt worden sein könnten.

Tanzen ist eine Möglichkeit, beeinträchtigte motorische, kognitive und sensorische Fähigkeiten wiederzuerlangen, die durch ein Trauma oder unbewältigten Stress geschädigt wurden. Dies wiederum stärkt unsere Fähigkeit , zukünftige Stressfaktoren zu bewältigen.

Unabhängig von den eigentlichen Bewegungen ist Tanzen mit Musik, wie es ein Neurowissenschaftler der Columbia University formulierte, "ein 'Genuss-Doppelspiel'. Die Musik stimuliert die Belohnungszentren des Gehirns, während der Tanz die sensorischen und motorischen Schaltkreise aktiviert. 

Wenn wir tanzen, wird ein komplexes kognitives Netzwerk in Gang gesetzt: Wir aktivieren unsere Sinnesorgane, unser motorisches System schaltet sich ein, um Koordination und Gleichgewicht zu erleichtern, und wir aktivieren unser räumliches Vorstellungsvermögen

"[Tanzen] hilft, neue neuronale Verbindungen zu entwickeln, insbesondere in Regionen, die an der Exekutivfunktion, dem Langzeitgedächtnis und der räumlichen Wahrnehmung beteiligt sind."

Selbst wenn du dich unbeholfen und unausgeglichen fühlst oder das Gefühl hast, "den Takt nicht zu finden", solltest du wissen, dass allein der Akt des Tanzens dein zentrales Nervensystem stärkt, so dass du dich ausgeglichener und koordinierter fühlst, um deine Umgebung besser wahrzunehmen

"Ein sicheres Gehirn ist expansiv und das Leben fühlt sich vital und freudig an. Das Überlebensgehirn erzeugt Fehlwahrnehmungen, Unklarheit und Bedrohung. Je besser wir unsere Stressreaktion in den Griff bekommen, desto leichter können wir diesem Überlebensgehirn entkommen. Dies erfordert Zeit und Mühe und setzt voraus, dass wir eine Toleranz gegenüber unangenehmen Empfindungen im Körper entwickeln. Wenn wir nicht in der Lage sind, diese unangenehmen Empfindungen zu tolerieren, versuchen wir, sie zu betäuben oder uns mit unangepassten Verhaltensweisen von ihnen abzulenken. Indem wir unsere Fähigkeit, Unbehagen zu tolerieren, weiter ausbauen, sind wir besser in der Lage unsere Herausforderungen zu bewältigen. Außerdem erlangen wir das nötige Selbstbewusstsein schwierige Erfahrung sicher zu überstehen "

Die einfachste Lösung: Der Körper

Durch Tanzen können wir unsere Sinne, unsere exekutiven Funktionen und unser Gedächtnis stärken, was bedeutet, dass wir besser in der Lage sind, bei neuem Stress präsent und achtsam zu bleiben.

Schütteln ist ein einfaches Mittel, das du überall anwenden kannst, um deinen Körper nach einer stressigen Situation biologisch wieder in den Ausgangszustand zu bringen und zukünftige Symptome zu verhindern.

Aus diesem Grund liebe ich das Tanzen - es ist kostenlos, ich kann es überall tun, es ist gesellschaftlich akzeptiert (und ermutigt!) und es ist einfach. 

Für Inspiration, Tanz-Playlists und mehr Liebe für das Nervensystem folge mir gerne auf Instagram und Tiktok!

Artikel teilen

Der Mindshine Newsletter

Melde dich zum Mindshine Newsletter an und erhalte Infos zu Updates, sowie zu neuen Podcast-Folgen, in dein Postfach.

Thank you! Your submission has been received!
Oops! Something went wrong while submitting the form.

Artikel teilen

Artikel, die dich auch interessieren könnten

Mindshine - Happiness Therapie

Das beste aus Psychologie, Neurowissenschaften und Achtsamkeit in einer App. Täglich angepasst an Dich.